Publiziert in: Tageszeitung DER BUND, 3. Januar 2011, Seite 8
Copyright Dr.rer.pol. Heinrich Anker, Lyss
Das Denken in Systemen verstellt den Blick für individuelle Freiheit und Verantwortung
Viele Vertreter von Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften betrachten das Finanzsystem als eine Maschine, die so rasch wie möglich zu flicken sei. Wie ratlos man hinsichtlich dieser Reparatur jedoch ist, zeigt sich daran, dass die einen die Lösung von der Politik – und nicht in der Wirtschaft selber – erwarten, während die Vertreter der neoliberalen Wirtschaftsverfassung dagegen halten, es sei ja gerade die Politik, welche die Wirtschaftsmaschine in ihrem Funktionieren beeinträchtigt habe… Beide Denkansätze führen an nachhaltigen Lösungen vorbei: Sie verstehen die Wirtschaft bloss als Maschine, d.h. als System. Systeme sind jedoch eine anonyme Grösse: Die Individuen und ihre Freiheit und Verantwortung kommen in der System-Perspektive nicht zum Tragen. Systeme sind bloss Abstraktionen – konkret sind nur die Menschen, welche miteinander auf ein ganz bestimmtes Ziel hin interagieren. Wer das Finanzsystem reformieren will, muss deshalb bei den Menschen, ihrer Freiheit und Verantwortung, bei ihrem Denken und Handeln ansetzen. Peter F. Drucker hat dies klar ausgedrückt: „Märkte sind nicht das Werk von Gott, der Natur oder ökonomischer Kräfte, sondern dasjenige von Geschäftsleuten.”
„Börselen“ ist nicht Lotto-Spielen!
Und es gibt viel mehr „Geschäftsleute“, als man denkt: 2008 waren 20% der Bevölkerung in der Schweiz im Besitz von Aktien, und „Börselen“ ist zumindest bis zum Crash 2008, ähnlich wie Lottospielen, immer mehr zum Volkssport geworden. Längst nicht alle Akteure sind sich dabei bewusst, welche Verantwortung und welche Konsequenzen sich mit dem Erwerb von Aktien, d.h. Anteilen von Unternehmen, verbinden: dafür fehlt vielen unter uns der Blick, d.h. das Wissen und deswegen oft auch die Sensibilität.
Eigennutzenmaximierung: Die Konsequenzen unseres Handelns bleiben ausgeblendet
Dies gilt ebenso für viele von uns als Konsumenten: Nach neoliberaler Lesart müssen wir nur an unseren ganz persönlichen Nutzen denken, die „unsichtbare Hand“ produziert dann daraus den grössten Nutzen für die grösste Zahl von Menschen, ohne dass wir uns darum zu kümmern haben. Und tatsächlich: Wie oft denken wir in der Freude über ein „Schnäppchen“ an diejenigen, welche dabei drauflegen? Was bleibt z.B. für das Zimmermädchen im Hotel in Grenada noch übrig, wenn wir für deutlich unter 1’000 Franken eine einwöchige Südspanienrundreise mit Flug, Unterkunft in guten Hotels und allen Transporten buchen können? Welche Verarmung unserer Fluren und Landschaften nehmen wir in Kauf, um ausländische Agrarprodukte noch ein paar Prozente billiger einzukaufen – immer im unhinterfragten Zeichen von „billiger ist mehr und mehr ist besser“? Warum wird kaum jemand hellhörig, wenn Peter Brabeck darauf hinweist, dass die Herstellung eines einzigen Liters Bio-Ethanol mehr als 4’000 Liter Wasser verschlingt? Und wenn man sich einmal fragt, was bei den heutigen Ananas-Preisen für die Pflücker in den Plantagen zum Leben noch übrigbleibt, wird uns vielleicht bewusst, dass Geiz nicht immer „geil“ ist.
Dies ist nicht im Entferntesten eine Moralpredigt, diese Beispiele sollen bloss veranschaulichen, dass das heutige, auf die Maximierung des Eigennutzens fixierte Wirtschaftskonzept uns den Blick auf die Konsequenzen unseres Handels und damit auf unsere persönliche Mitverantwortung verstellt und uns letztlich selber zu Eigennutzenmaximierern werden lässt, dem Prinzip nach nicht unähnlich den vielgescholtenen Abzockern – wir sind Teil der Maschine, auch wenn wir dies eigentlich gar nicht wollen. Eine Schlussfolgerung: Solange nur gegen die Abzocker ins Feld gezogen wird, ohne dass wir unser eigenes, persönliches Wirtschaftsdenken und -handeln hinsichtlich unserer Freiheit und Verantwortung kritisch reflektieren und an neuen Erkenntnissen orientieren, wird sich in unserer Finanz- und Wirtschaftswelt nichts dauerhaft zum Besseren wenden.
Für die Eigennutzenmaximierung bezahlen wir einen hohen Preis
Wir sind jedoch nicht nur Nutzniesser dieses eigennützigen Wirtschaftssystems, sondern wir bezahlen auch dafür – häufig wiederum, ohne dass uns dies richtig bewusst ist. Als Kunden sind wir nicht nur die nach ihrem persönlichen Vorteil strebenden „Täter“, sondern wir sind gleichzeitig immer auch „Opfer“ der Nutzenmaximierung: Auf Kosten von uns als Kunden wird – immer in der Logik des neoliberalen Wirtschaftskonzepts – die Leistung im Streben nach dem „schnellen Geld“ so weit wie möglich minimiert, z.B. bei der Lebensdauer von Erzeugnissen, beim Kundendienst, bei der Kulanz, der Produkthaftung, der Umweltverträglichkeit etc., und oft genug verbünden sich Unternehmen auf Kosten der Kunden zu Kartellen, um ihre Gewinnmargen zu erhöhen, ohne mehr Leistung zu erbringen. Es ist eine „neoliberale Nebelpetarde“, wenn behauptet wird, das eigennützige Gewinnstreben der Unternehmen komme immer den Konsumenten zugute.
Die Fixierung auf den Konsum – in Wirtschaftskrisen immer als „Bürgerpflicht“ deklariert – fordert auch auf andere Art einen hohen Preis von uns: Je mehr wir uns auf den Konsum fixieren, desto mehr entwerten wir die Arbeit, die wir für dieses Konsumieren erbringen müssen: Sie erscheint bloss noch als Mittel zum Zweck des Konsums und verliert ihren Eigenwert als Möglichkeit der individuellen Selbstgestaltung. So antworten z.B. immer mehr Junge (d.h. unsere Kinder), wenn man sie nach ihren Berufswünschen fragt, mit „reich werden“ oder „berühmt werden“, und immer häufiger tönt es: „Arbeiten geht man, um Geld zu verdienen, das Leben beginnt erst nach der Arbeit!“ Solche Beziehungslosigkeit entleert die Arbeit ihres Wertes, ihres Sinns und folglich ihrer Motivationskraft – aus einer solchen Haltung heraus werfen wir einen Drittel unseres (endlichen) Lebens schlicht zum Fenster hinaus!
Die Eigennutzenmaximierung frisst ihre Kinder
Letztendlich wird es auch der „eigennutzenmaximierenden Fraktion“ dämmern: In ihrem System verliert die Arbeit ihren Wert als Möglichkeit der Teilhabe an der Mitgestaltung der Welt und dadurch der Selbstgestaltung in Freiheit und Verantwortung immer mehr – die Arbeitsmotivation und damit die Leistungsfähigkeit der entsprechenden Unternehmen sowie die Loyalität zu ihnen sinken entsprechend. Die Eigennutzenmaximierung, die Orientierung am kurzfristigen Gewinn wird für diese Unternehmen zu einem immer gravierenderen Handicap im Wettbewerb – ihre Leistungsfähigkeit sinkt mehr und mehr. Wer dem Erfolg als Selbstzweck nachjagt, dem rennt er davon. Die Zukunft gehört dem Primat der Leistung auf der Grundlage von Freiheit und Verantwortung aller am Wirtschafts-Leben Beteiligten.
Der überdurchschnittliche Erfolg von Familienunternehmen, vieler KMUs, aber auch zahlreicher kleiner und grosser Publikumsgesellschaften in der ganzen Welt zeigt seit Jahren und Jahrzehnten, dass der Weg zum wirtschaftlichen Gedeihen nicht über die Maximierung des Eigennutzens führt, sondern dass diejenigen Unternehmen langfristig die erfolgreicheren und ertragsstärkeren sind, welche zuerst an ihre Verantwortung gegenüber den Kunden, den Mitarbeitenden, der Gesellschaft und der Umwelt denken und diesbezüglich das Optimum leisten. Ihr Erfolg er-folgt dann, ganz wie der Name es sagt, als Resultat der vorher erbrachten Leistungen – ganz nach der altbewährten Weisheit „Ohne Fleiss kein Preis!“ Mit dem Finger auf die Abzocker zu zeigen bzw. sie per Gesetz zurückzupfeifen, bringt allein noch nicht viel – wir sind alle Teil des Systems und wir sind alle gefordert, einen aktiven Beitrag zu seinem Wandel zu leisten.