Essay
Dr.rer.pol. Heinrich Anker, Lyss
Der Mensch – nur Natur?
Generationen von Wirtschaftsstudenten bekamen und bekommen es noch heute zu hören: Das ultimative Motiv unseres individuellen Handelns sei das Verfolgen des eigenen grösstmöglichen Nutzens. Wer dies tue, trage zum grössten Nutzen der grössten Zahl bei. Dieses Kern-Credo der neoliberalen Wirtschaftslehre wird mit dem Hinweis bekräftigt, die Verfolgung des eigenen Nutzens sei ein universelles Phänomen, auch Tiere und Pflanzen gehorchten diesem Prinzip.
Wenn nicht nur die Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen nach dem grösstmöglichen Eigennutzen streben, heisst dies: Das neoliberale Wirtschaftskonzept basiert nicht auf dem Humanen, sondern auf einem Natur-Prinzip – der Mensch wird auf das Natürliche reduziert; das „gewisse Etwas“ des Menschen wird ausgeklammert: die Kultur als Universum der Symbole, der Werte, Sitten, Bräuche, von Sinn und Ästhetik, der Sprache als Mittel gegenseitiger Interaktion, der Quelle der Kreativität, der Innovation etc. Dies bedeutet u.a. dass die „Menschen“ des Neoliberalismus nicht sprechen können und unfähig sind, sich untereinander zu verständigen, sich zu vertrauen, sich neu zu orientieren.
Im Einklang mit der Beschränkung auf das Natürliche versteht sich der Neoliberalismus als Natur-Wissenschaft und versucht, seine Erklärungen und Prognosen in Gesetze von quasi-naturgesetzlicher Präzision zu fassen. Es gilt deshalb nur, was messbar und zählbar ist.
Die neoliberale Ökonomie als Kosmologie sui generis
Einen Einblick in dieses Denken gewährt uns Hermann Heinrich Gossen (1810-1858), einer der Vordenker eigennützigen Mathematisierens: „Was einem Kopernikus zur Erklärung des Zusammenseins der Welten im Raum zu leisten gelang, das glaube ich für die Erklärung des Zusammenseins der Menschen auf der Erdoberfläche zu leisten. (…) Und wie die Entdeckungen jenes Mannes es möglich machten, die Bahnen der Weltkörper auf unbeschränkte Zeit zu bestimmen; so glaube ich mich durch meine Entdeckungen in den Stand gesetzt, dem Menschen mit untrüglicher Sicherheit die Bahn zu bezeichnen, die er zu wandeln hat, um seinen Lebenszweck in vollkommenster Weise zu erreichen.“
Wenn uns jemand mit naturgesetzlicher Präzision die Bahn vorgibt, auf der wir im Kosmos der Güter und Dienstleistungen zu kreisen haben, bezahlen wir dafür mit unserer Freiheit und Verantwortung – als Konsumenten wie als Unternehmer.
Haben die Wirtschaftssubjekte vollständige Voraussicht?
Wo es keine Freiheit und keine Verantwortung gibt, existiert auch kein freier Wille. Und tatsächlich: „Ich will!“ gibt es in der Natur und im Neoliberalismus nicht, sondern nur: „Meine Instinkte und psychischen Impulse treiben mich dazu,…“ Tiere und Pflanzen und der „Mensch“ des Neoliberalismus, der sog. homo oeconomicus, reagieren nur auf das, was ihnen ihre Instinkte und Triebe aufgrund von aktuellen Reizen ihrer Umwelt „befehlen“. Sie leben ausschliesslich im Hier und Jetzt und setzen sich nicht bewusst und willentlich Ziele in der Zukunft: Die Natur und mit ihr der homo oeconomicus kennen keine Zeit – von daher letztlich die Kurzfristigkeit im neo-liberalen Denken.
Der reale Mensch ist hingegen immer mit der Dimension der Zeit konfrontiert: Er muss dauernd abwägen, z.B. zwischen Sparen heute und Konsum morgen oder einer Zigarette heute und möglichem Lungenkrebs morgen. Dieser Widerspruch zwischen der zeitlosen Welt des homo oeconomicus und der realen Welt versucht der Neoliberalismus zu überbrücken, indem er postuliert, die Wirtschaftssubjekte hätten vollständige Voraussicht. Dies ist die erste von zwei zentralen Randbedingungen neoliberalen Denkens: Unter der Bedingung vollständiger Voraussicht implodiert die Zeitachse des realen Menschen zu einem einzigen Zeit-Punkt – sie schrumpft zum Hier und Jetzt der Welt des homo oeconomicus.
Hinter dem Postulat der vollständigen Voraussicht steht als weitere Bedingung, alles sei Ökonomie, alles habe heute einen Preis – auch das in der Zukunft erlittene Leid eines Lungenkrebses. Nur so lässt sich die Zukunft gegenüber der Gegenwart aufrechnen bzw. der zukünftig mögliche Lungenkrebs in Franken und Rappen auf heute „abdiskontieren“.
Reagieren alle Wirtschaftssubjekte unendlich schnell?
Wer seinen Nutzen gemäss neoliberalem Wirtschaftskonzept maximieren will, benötigt nicht nur vollständige Voraussicht, sondern auch vollständige Markttransparenz – nur wer in Kenntnis aller Dinge entscheidet, vermeidet Fehlentscheide und kann „rational“ handeln.
In der realen Welt ist eine vollständige Transparenz von Märkten aus verschiedenen Gründen unvorstellbar. Aber auch dafür hat der neoliberale homo oeconomicus eine Lösung parat. Das zweite zentrale Postulat des Neoliberalismus lautet: Wenn alle Wirtschaftssubjekte auf Veränderungen der Marktbedingungen unendlich schnell reagieren, durchlaufen Impulse den ganzen Markt in Ist-Zeit, in „real time“. Damit wäre der Markt vollständig und dauernd transparent. (Ein Sardinen-Schwarm, der dauernd seine Richtung ändert, ohne dass die einzelnen Fische zusammenstossen, vermittelt ein recht gutes Bild dieser Vorstellung.)
Der hochgradig informatisierte Finanzmarkt kommt diesem neoliberalen Ideal näher als alle andern Märkte:
– Er ist weltumspannend dicht vernetzt.
– Informationen verbreiten sich weltweit beinahe „real time“.
– Transaktionen können weltweit in Sekundenschnelle vollzogen werden und sind heutzutage zum Teil auch automatisiert.
– In einem transparenten Markt steht das einzelne Wirtschaftssubjekt immer dem Gesamtmarkt gegenüber und kann ihn deshalb nur marginal beeinflussen; der Finanzmarkt führt ein Eigenleben, er hat sich gegenüber den Wirtschaftssubjekten weitgehend verselbständigt – wie eine Naturgewalt (eine neoliberale selffulfilling prophecy!).
Das Finanzsystem – Vorzeigemarkt des Neoliberalismus
Der Finanzmarkt war deshalb lange Zeit der Vorzeige-Markt der neoliberalen Schule. Darin liegen jedoch gleichzeitig die Gründe für seinen globalen Zusammenbruch: Als sich in den USA die vollständige Voraussicht und Transparenz als Irrtum erwiesen (die Immobilienpreise stiegen nicht mehr wie vorausgesehen und die Rating-Agenturen lieferten geschönte Daten), war der globale Kollaps vorgezeichnet und eine weltumspannende Panik unvermeidlich.
Im Gegensatz zu neoliberalen Erklärungsversuchen ist der Finanzmarkt nicht an einer politischen Überregulierung gescheitert – es gab und gibt wohl keinen Markt mit einem unkontrollierbareren Eigenleben als diesen –, sondern an seinen eigenen unrealistischen Funktionsvoraussetzungen der vollständigen Voraussicht und Transparenz sowie dem damit verbundenen Credo der Maximierung des Eigennutzens. Nun hat auch das globale Finanzsystem seinen Eisberg gefunden.
Kein robustes Finanzsystem ohne Verständigung und Vertrauen
Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Allein auf dem Natur-Prinzip der Eigennutzenmaximierung lässt sich in Gesellschaften realer Menschen kein robustes Finanz- und Wirtschaftssystem aufbauen. Eine gewisse Voraussicht im sozialen und so auch im ökonomischen Leben können nur kulturelle Errungenschaften wie Werte, Normen, gegenseitige Verständigung und daraus entstehendes Vertrauen gewährleisten – sie machen menschliches Handeln zu einem gewissen Grade voraussehbar, d.h. „berechenbar“ und transparent. Dazu ist der homo oeconomicus jedoch nicht in der Lage: Als Naturwesen kann er nicht sprechen, sich nicht mit andern verständigen und auch kein Vertrauen aufbauen – er ist eine autistische Monade.
Die Konsequenz: Solange der Finanzsektor neoliberal „tickt“, werden auch die höchsten Rekordgewinne der Banken bei den Kunden kein Vertrauen schaffen und wird er allen bisherigen Krisen zum Trotz seinen Eigennutzen weiterhin im Hier und Jetzt, d.h. in der kurzen Frist, maximieren wollen – keine guten Voraussetzungen für ein investitions- und wachstumsfreundliches Wirtschaftsklima: Substanzielles entsteht nur auf der Grundlage langfristigen Denkens und Handelns.
Die „neoliberale Weltmaschine“
Die eigennützige Motivationstheorie und die damit verbundenen Postulate der vollständigen Voraussicht und Transparenz sind so lebensfremd (und wissenschaftlich so veraltet), dass dieses System in der Realität immer wieder abstürzt. Allein: Die neoliberale Schule sieht dies anders. Sie lässt nicht von ihrer Lehre ab; sondern will im Gegenteil die realen Menschen in ihr System hinein zwingen. So disqualifiziert die neoliberale Wirtschaftslehre Menschen, die nicht nur nach dem eigenen Nutzen streben, als „irrational“ oder als „Gutmenschen“.
Setzen wir für einen Moment die neoliberale Brille auf: Alle Wirtschaftssubjekte sind miteinander vernetzt, reagieren in vollständiger Voraussicht und unendlich schnell. Daraus ergibt sich ein Konstrukt, in welchem nicht mehr zwischen Individuen und Gesamtsystem zu unterscheiden ist – die Individuen lösen sich im umfassenden grossen Ganzen auf. Dies ist die Blaupause einer „ökonomischen Weltmaschine“, in welcher sich die Mission des Neoliberalismus erfüllt: Individuelles Eigennutzenstreben und der grösste Nutzen des grossen Ganzen fallen zusammen! Individuen gibt es in diesem System nicht mehr.
Dies ist keine böswillige Interpretation des Neoliberalismus. John Stuart Mill, einer der einflussreichsten utilitaristischen Philosophen und Ökonomen des 19. Jahrhunderts, hat dieses Utopia, diese Vision in seinem Werk „Utilitarismus“ selber vorgezeichnet: “Das soziale Leben ist auf einmal so natürlich, so notwendig für die Menschen und es scheint ihnen so normal, dass sie sich nie anders als Glieder eines Körpers verstehen.“
Hinter dem quasi-naturwissenschaftlichen Anspruch des Neoliberalismus werden die Konturen einer materialistischen, fundamental unliberalen Heilslehre sichtbar, in welcher der ewige Widerstreit (das „Böse“ in der Welt) zwischen individuellem Eigennutzenstreben einerseits und grösstem Nutzen des grossen Ganzen anderseits für immer überwunden ist: In Jeremy Bentham, zusammen mit John Stuart Mill der einflussreichste Protagonist utilitaristischen Wirtschaftsdenkens und -handelns, sah Peter F. Drucker den „gefährlichsten aller liberalen Totalitaristen“, „welcher tausend Ideen hatte, die Welt um ihres eigenen Guten willen zu versklaven“ – der Neoliberalismus als Inbegriff des Gutmenschentums, als universelle Heilslehre.
Auch wenn ich es im Großen und Ganzen auch so sehe, dass der Neoliberalismus aus den genannten Gründen als Unterdisziplin der Zoologie zu betrachten ist, so denke ich, dass die Homo-Ökonomikus-Ideologie nicht unbedingt als Prämisse vollständige Marktübersicht usw. braucht, weil dem Homo Ökonomikus ja keine volkswirtschaftlich-ökonomische Rationalität unterstellt werden muss und ihm problemlos subjektive Sicht und also mangelnde Übersicht der vereinzelten Einzelnen unterstellt werden kann. Dass unter der Voraussetzung freier Konkurrenz (und gleicher organischer Zusammensetzung des Kapitals) die Preise um einen Wert oszilieren, der durch die zur Reproduktion der Ware gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit induziert ist, und am Ende ein Effizienzgewinn für alle steht, (= Entwicklung der Produktivkräfte), kommt ja grad dadurch zustande, dass vom Gesamtüberblick irrationale Kaufentscheidungen (zu teuer oder zu billig eingekauft) Ausgleichsbewegungen hervorbringen (Konkurrenz geht pleite, wenn zu langsam oder erfindet ähnlich Brauchbares und bietet es billiger an usw.) .
Die Irrationalität bzw. der Mangel an Kultviertheit, Humanismus oder (in einem öko-humanistischen Sinne) ökologischer Rationalität eines globalen Miteinanders auf Basis privateigentümlicher Rationalitätsprämissen, Verantwortungsbereiche usw. kann allerdings nur durch ein anderes Zusammenspiel der produzierenden und das Produzierte aneignenden Individuen und Institutionen aufgehoben werden. Das heißt durch eine Produktionsweise, die in zentralen Angelegenheiten einen gemeinsamen (!) Gesamtüberblick über die (sozialen bzw. ökologischen) Bedürfisse und die zu deren (sozial bzw. ökologisch) nachhaltiger Befriedigung notwendigen bzw. verantwortbaren Produktionsziele, -methoden, -orte usw. erlaubt und dass wir uns zum Homo Ökologikus entwickeln.
Gruß hh