Wer Leistung fordert, muss den Menschen Sinn und Wertschätzung bieten

Bieler Tagblatt, Beilage Wirtschaft & Konjunktur, Mittwoch, 29. Mai, 2013

 

Jahr für Jahr wendet die Unternehmenswelt immense Summen auf, um wichtige Entscheide abzusichern: Marktforschung, Pilottests, wissenschaftliche Gutachten, externe Beratungen, Controllings jeder Art, ja selbst Horoskope. Der wichtigste Erfolgsfaktor überhaupt, die Mitarbeitenden als Quelle der Leistungen und der daraus erfolgenden Unternehmenserträge, sind demgegenüber in vielen Unternehmen ein «blinder Fleck».

Zum Auftakt von Seminaren mit HR- und andern Führungsverantwortlichen stelle ich regelmässige die Frage: «Hat sich die Geschäftsleitung Ihres Unternehmens schon einmal mit der Frage auseinander gesetzt, was die Mitarbeitenden motiviert, woraus sie bei ihrer Arbeit ihre Kraft schöpfen? Gibt es diesbezüglich in Ihrer Firma ein gemeinsames Verständnis?» Wenn es hoch kommt, bejahen zehn Prozent der Seminarteilnehmer diese Frage.

Aufgrund vieler Gespräche mit Verantwortlichen höherer Führungsstufen zeichnete sich  ein recht deutlicher Trend ab, wie die Mitarbeitenden gesehen werden: Mehrheitlich werden ihnen primär egoistische, eigennützige, «darwinistische» Motive zugeschrieben. Es handelt sich dabei oft um Versatzstücke psychologischer und biologischer Theorien aus dem 19. Jahrhundert. Ein Extrembeispiel lautete: «Die Menschen sind wie Tiere – eigennützig und erst noch intelligent!»

Ein kleinerer Teil Führungsverantwortlicher schreibt den Mitarbeitenden nicht nur egoistische, sondern auch an Mitmenschen orientierte Motive zu, und ein noch kleinerer Teil geht davon aus, die Menschen beziehungsweise die Mitarbeitenden seien (im moralischen Sinne) grundsätzlich «gut». Den meisten dieser Aussagen ist gemein, dass sich die Führungskräfte dabei auf ihr «Bauchgefühl» oder subjektive Erfahrungen berufen, nicht auf gesicherte oder zumindest kritisch hinterfragte Befunde – ein doch eher erstaunliches Faktum in einer immer stärker durchrationalisierten Unternehmenswelt.

 

Der Pygmalion-Effekt

Diese Beobachtungen sind nicht repräsentativ und auch in keiner Weise als «Schelte» gedacht. Der Punkt ist folgender: Solche Beobachtungen sind von Bedeutung, weil sie für jede einzelne Führungskraft und für jedes einzelne Unternehmen höchst folgenreich sein können.  Mit der Wahl eines bestimmten Menschenbildes respektive einer bestimmten Motivationstheorie treffen Führungsverantwortliche einen Vorentscheid, der ihnen in seiner ganzen Tragweite wohl nicht immer klar bewusst ist. Edgar Schein beschreibt dies so: «Führungsverantwortliche, welche davon ausgehen, die Menschen seien grundsätzlich faul und passiv und interessierten sich nicht für das Unternehmen, sondern bloss für ihre eigenen Angelegenheiten, bringen Unternehmen hervor, welche zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden. Solche Führungsverantwortliche erziehen ihre Mitarbeitenden zur Faulheit und zur Eigennützigkeit. Diese Sachverhalte stellen sie dann als Beweis für ihre ursprünglichen Annahmen über die menschliche Natur dar. Solche daraus entstehenden kontrollorientierten Organisationen mögen sich in stabilen Lagen am Leben halten oder sogar vorwärts kommen, sobald ihr Umfeld jedoch turbulenter wird, gehen sie unter.»

Anna Maria Pircher-Friedrich generalisiert diesen Mechanismus: «Sie konditionieren die Menschen durch Ihre Ansichten, Mentalmodelle, durch das Bild, das Sie von ihnen haben (…).» Offenbar spielt der so genannte Pygmalion-Effekt auch in der Unternehmenswelt. Ursprünglich besagt dieser, dass ein und derselbe Schüler einen signifikant höheren IQ entwickelt, je nachdem, ob die Lehrkraft ihm a priori ein hohes oder ein geringes Lernpotenzial zuschreibt. Wenn Führungskräfte zum Erfolg kommen wollen, schreiben sie ihren Mitarbeitenden Erfolgspotenziale zu und lassen diese sich entwickeln.

 

Vom Bild zur Motivation

Das Bild, das sich Führungsverantwortliche von ihren Mitarbeitenden machen, wirkt sich unter anderem via die direkte Führungsbeziehung und via die Organisation des Unternehmens auf die Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden und letztlich des Unternehmens aus.

Unternehmen, in denen implizit oder explizit davon ausgegangen wird, die Menschen seien primär eigennützig, werden geprägt von einer Kultur des gegenseitigen Misstrauens – ihre Unternehmensstruktur tendiert in Richtung Kommando und Kontrolle (zwecks Disziplinierung der Eigennützigkeit). Das Unternehmen wird wie ein Mechanismus gesehen, als eine Maschine, als ein komplexes Räderwerk. Für ein solches wäre es eine Bedrohung, wenn die Mitarbeitenden ihre kreativen Potenziale mehr oder weniger frei entwickelten. Die Unternehmensleitung ist unter diesen Bedingungen die einzige Instanz, die «weiss, wie es geht» – sie hortet die Information und das Know how; die Gefahr ist gross, dass unter diesen Voraussetzungen Innovations- und Anpassungsprozesse misslingen, besonders in der heutigen Zeit immer dynamischeren Wandels und einer zunehmend komplexeren Wirtschaftswelt.

Auf der Motivationsebene passiert zugleich Folgendes: Je weniger die Mitarbeitenden ihre wahren Potenziale entfalten können, je mehr sie als vermeintlich eigennützige Wesen vorwiegend via materielle Anreize und quantitative Vorgaben geführt werden, desto eher gerät der tiefere Sinn ihrer Arbeit aus ihrem Blickfeld – sie verliert ihren Eigenwert und wird bloss noch Mittel zum Zweck.

Es ist kein Wunder, dass aufgrund solcher Erfahrungen gerade von jungen Menschen immer wieder zu vernehmen ist: «Arbeiten gehe ich nur, weil ich muss – das echte Leben beginnt nach der Arbeit!» Dies ist nicht nur für diese Menschen und ihre brach liegenden Potenziale eine Katastrophe, sondern auch für die Unternehmen.

 

Selbst- und Lebenswert

Der andere Zugang zu den Mitarbeitenden lautet: Menschen sind grundsätzlich fähig und gewillt, mit Freiheiten, die ihnen gewährt werden, verantwortungsvoll umzugehen – kurz: Menschen sind nicht bloss «Eigennützlinge», sondern in der Lage und gewillt, sich für Aufgaben einzusetzen, die grösser sind als sie selber (die also nicht bloss Selbstzweck sind), oder sich andern Menschen zuzuwenden und deren Interessen wahrzunehmen.

Dahinter stehen zwei grundlegende Bedürfnisse der Menschen: Die Einsicht in den Sinn ihres Tuns  und ihrer Aufgaben und die Erfahrung, als Mensch wertgeschätzt zu werden. Stellen Sie sich vor, Sie erwachen eines Tages und es durchführe Sie: «Ich sehe keinen Sinn in meiner Arbeit und in meinem Leben, und es wartet auch niemand auf mich!» Hängen Sie diesen Gedanken nicht zu lange nach, Sie spüren körperlich, wie die Energie aus Ihnen wegfliesst! Stellen Sie sich demgegenüber vor: «Toll, auch heute wartet jemand auf mich, meine Arbeit ist für andere Menschen wichtig und wertvoll, ich bin bedeutsam für sie!» oder: «Schön, dass ich in einem Unternehmen arbeiten kann, das mir erlaubt, für unsere Kunden das Beste zu geben – ich kann etwas Positives bewirken!»

In diesem Wissen kann unsere Arbeit zu einer Quelle des Selbst-Wertes und der eigenen «Lebenswertigkeit» werden – Grund zur Freude und Begeisterung. Die Erfahrungen von Sinn und Wertschätzung beflügeln sich gegenseitig, und letztlich sind sie eine Quelle unseres Vertrauens, «einen Platz in dieser Welt zu haben» und nicht nur zufällig – ohne irgendeine Aufgabe, ohne einen tieferen Sinn – hier zu sein, um es einmal «philosophisch» auszudrücken.

Vor diesem Hintergrund braucht es auf der Ebene der Motivation gar nicht mehr, damit die Mitarbeitenden ihre Potenziale – und damit sich selber als Menschen entfalten, an Herausforderungen wachsen können und psychisch in der Lage und geistig gewillt sind, ihr Bestes zu geben. Die «Formel» lautet: «Wer Leistung fordert, muss den Mitarbeitenden Sinn und Wertschätzung bieten!» (Schön, wenn dies auch die Gewerkschaften zur Kenntnis nähmen.)

In solchen Unternehmen besteht auch ein gutes Fundament für eine so genannte 6-f-Organisation: Solche sind fit, fast (schnell), flexibel, fokussiert (auf die Leistung am Markt), freundlich (gegenüber den Kunden) und fulfilling (erfüllend für die Mitarbeitenden). Entsprechend hoch sind die Innovations- und Anpassungsfähigkeit solcher Unternehmen und ihre Überlebenschancen.

Das Bild von den Mitarbeitenden, welches in einem Unternehmen vorherrscht, wirkt sich auf deren Leistungswillen und Leistungsfähigkeit aus, diese wiederum hat Auswirkungen auf die Fehlzeiten und Krankenstände, die Produktivität, die Verweildauer guter Arbeitskräfte im Unternehmen, die Ausstrahlungskraft für hochqualifizierte neue Mitarbeitende und die Qualität der Kundenbeziehungen. Jim Heskett spricht in seinem Werk «The Culture Cycle» vorsichtig von Ertragsunterschieden von acht Prozent in Abhängigkeit von der Kultur bzw. vom Umgang mit den Mitarbeitenden – sie können entscheidend sein für das Leben oder den Tod von Unternehmen.

 

Ethik bringt Erfolg

Das Bild des grundsätzlich zu Freiheit und Verantwortung fähigen Menschen ist nicht blosses Wunschdenken auf rosa Wölklein schwebender Illusionäre: Das Spannende an unserer heutigen Zeit ist, dass die Psychologie, die Anthropologie, die Gehirnforschung, aber auch die Evolutionsbiologie und die Verhaltensökonomie immer mehr Belege dafür liefern, dass das aus dem 19. Jahrhundert stammende Bild des primär eigennützigen, «darwinistischen» Menschen falsch ist, dass die Erfahrung von Sinn und Wertschätzung hingegen zu den fundamentalsten menschlichen Bedürfnissen gehört – sie zählt zu den Wesensmerkmalen des Menschseins schlechthin. Erst dann, wenn diese grundlegenden Bedürfnisse frustriert sind, erst dann, wenn die Menschen beziehungsweise Mitarbeitenden in dem, was sie tun, keinen Sinn mehr erkennen können, wenn das, was sie tun, nicht mehr eine Quelle der Wertschätzung und des Selbstwerts ist, entwickeln sie sich zu Eigennutzenmaximierern.

Wenn wir davon ausgehen, dass das Bedürfnis nach Sinn und Wertschätzung zu den Wesensmerkmalen des Menschen schlechthin zählt, steht das Prinzip «Wer Leistung fordert, muss den Mitarbeitenden Sinn und Wertschätzung bieten» nicht primär unter dem Stern der Motivation, der Leistungsfä-higkeit der Mitarbeitenden und der Leistungskraft der Unternehmen – den Menschen entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, ist allem voran eine grundlegend unternehmensethische Frage. Daraus erwächst die Hoffnung für die Zukunft: Ethik und Unternehmenserfolg stehen nicht im Widerspruch zueinander, vielmehr ist das eine ohne das andere gar nicht möglich.

Je nachdem, wie Führungskräfte über ihre Mitarbeitenden denken, je nachdem, wie sie ihre Mitarbeitenden sehen und führen – in der langen Frist machen sie sich selber zum Schmied ihres Glücks. Viele Führungskräfte halten sich daran, viele mit Erfolg. Aus verschiedenen Gründen ist dies jedoch bis dato nicht Allgemeingut geworden – nun scheint die Zeit reif.

 

Vgl. Anker, Heinrich, Ko-Evolution versus Eigennützigkeit, Erich Schmidt Verlag, Berlin, 2012, und Balanced Valuecar. Leistung statt Egoismus, Haupt-Verlag Bern, 2010.

 

Über businessculture

Mitgründer und Co-Leiter Management Zentrum Zug GmbH (Schweiz), Autor "Balanced Valuecard. Leistung statt Egoismus", Bern, 2010
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